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Kulturhauptstadt Chemnitz: "Ein Schub gegen rechts"

Kulturhauptstadt Chemnitz Ein Schub gegen rechts
Am 18. Jänner startet Chemnitz als Kulturhauptstadt. Oberbürgermeister Sven Schulze (SPD) will das Image der Stadt als Hochburg der Rechtsextremisten abstreifen
Eine der Hauptbühnen in Chemnitz befindet sich beim Wahrzeichen der Stadt: dem großen Kopf von Karl Marx.
Foto: IMAGO/Wolfgang Schmidt

Bad Ischl, Tartu und Bodø, die Kulturhauptstädte des Jahres 2024, übergeben die Staffel an Chemnitz, Nova Goriza und Goricia. Die nach Dresden und Leipzig drittgrößte sächsische Stadt mit ihren 250.000 Einwohnern liegt nicht weit von der tschechischen Grenze entfernt. Eingebunden sind auch 38 Gemeinden im Umland. Während in Chemnitz einiges an Industriekultur zu sehen ist und auch 3000 private Garagen aus der DDR-Zeit geöffnet werden, kann man auf dem Land auf dem "Purple Path" Installationen und Skulpturen "erwandern".

STANDARD: Wird es in Chemnitz am Samstag auch eine spektakuläre Eröffnung geben? Etwa mit einem "Pudertanz", wie er in Bad Ischl für Aufsehen gesorgt hat?

Schulze: Bei uns werden Lokomotiven gezogen. Das schafft eine Verbindung zur Tradition der Stadt als Industriestadt, in der einmal Lokomotiven hergestellt wurden. Ob es so aufregend wird wie der "Pudertanz", wissen wir noch nicht.

STANDARD: Was ist Ihr Highlight des kommenden Jahres?

Schulze: Da gibt es so viel, wir binden ja auch das Umland mit mehr als 100 Projekten ein. Ein Schwerpunkt wird die große Ausstellung von Edvard Munch zum Thema Angst sein, was gut in unsere Zeit passt. Munch war 1905 in Chemnitz und hat Industrielle gemalt, um Geld zu verdienen.

Stadtansicht Chemnitz
Die ganze Stadt Chemnitz soll Bühne sein.
Foto: IMAGO/Wolfgang Schmidt

STANDARD: Dresden hat – Stichwort Semperoper – die Hochkultur, Leipzig glänzt mit seiner Galerieszene. Setzen Sie bewusst stark auf Industriekultur in Chemnitz?

Schulze: Chemnitz stand schon immer ein bisschen im Schatten. Wir sind eine Industriestadt, das hat keinen glamourösen Touch – auch wenn die Schornsteine nicht mehr rauchen. Jetzt wollen wir zeigen, dass Industrie auch Grundlage ist, um sich Kultur leisten zu können. Natürlich ist die Kulturhauptstadt ein wesentliches Element, um unser Image zu verbessern.

STANDARD: Dieses bekam 2018 einen schweren Schlag. Damals wurde auf dem Stadtfest ein Mann getötet. Nachdem sich die Nachricht verbreitet hatte, dass die Täter Geflüchtete seien, kam es zu massiven Ausschreitungen von Rechtsextremisten. Wie sehr hängt das Chemnitz nach?

Schulze: Es hängt Chemnitz nach, es ist Teil der Geschichte. Aber wir sind mit den Ereignissen von damals in unserer Bewerbung für den Titel Kulturhauptstadt sehr ehrlich und offensiv umgegangen. Unsere Aussage war klar: Chemnitz ist eine Stadt, der man die Narben und Brüche ansieht.

Sven Schulze, der Chemnitzer Oberbürgermeister, wirbt für die Kulturhauptstadt
Sven Schulze, der Chemnitzer Oberbürgermeister, hofft auf zwei Millionen Besucherinnen und Besucher.
Foto: AFP/FEMKE COLBORNE

STANDARD: Die AfD ist im Chemnitzer Stadtrat die stärkste Fraktion. Wie erklären Sie sich das?

Schulze: Wir hatten hier nie eine durchgängige Erfolgsgeschichte, Chemnitz musste sich so oft neu erfinden und wirtschaftliche Krisen überwinden. Dazu kamen viele persönliche Krisen: Nach der Wende verloren viele den Job, ihre Kinder verließen die Heimat, weil sie keine Perspektive mehr sahen. Viele sehen sich auch von der Berliner Blase nicht gesehen und fühlen sich abgehängt. Das führt zu Minderwertigkeitskomplexen, die aber gar nicht angebracht sind.

STANDARD: Jetzt werden die Stadt und ihre Umgebung im Rampenlicht stehen. Welche Botschaft ist Ihnen wichtig?

Schulze: Der Slogan ist "C the Unseen". Natürlich wollen wir, dass die Schätze und Potenziale gesehen werden, die praktisch vor der Haustür liegen, aber oft übersehen werden. Uns war wichtig, dass wir hier nicht nur Stars einfliegen. Die Kulturhauptstadt wird von den Chemnitzern und Chemnitzerinnen gemacht, die auch eine nachhaltige Entwicklung anstoßen wollen.

STANDARD: Gibt es eine Botschaft mit Blick auf Rechtsextremismus? Die AfD ist ja generell in Sachsen sehr stark.

Schulze: Wir wollen der stillen Mitte der Gesellschaft, die sich ins Private zurückzieht und das zulässt, vermitteln: Der Einzelne kann etwas bewegen, wenn er mitmacht. Kultur ist ein niederschwelliges, gemeinsames Element, um Brücken zu bauen. Die vielen Projekte sollen der Stadt auch einen Schub geben, damit sie sich weiterentwickelt. Dann sind Menschen auch weniger anfällig für Rechts, als wenn es eine Stadt im Niedergang ist.

Das Besucherzentrum in Chemnitz befindet sich in einer restaurierten Produktionshalle der historischen Lokomotivenfabrik Hartmann.
Foto: IMAGO/Wolfgang Schmidt

STANDARD: Es gab viel Skepsis in Chemnitz, auch die Organisatorinnen und Organisatoren mussten zwischenzeitlich einräumen, dass man den Sinn einer Kulturhauptstadt noch besser vermitteln müsse. Ist das gelungen?

Schulze: Es hat sich gebessert, aber Skepsis gibt es immer noch. Der Titel "Kulturhauptstadt" ist ein wenig greifbares Gebilde. Die einen dachten, es kommen nur noch Stars. Die anderen glauben, es gibt nur noch Ausstellungen, viele hatten gar keine Ahnung. Aber sie werden es fühlen. Wir setzen auf einen sehr breiten Kulturbegriff, der umfasst auch Sport, sehr viele kleine Projekte und Nischen.

STANDARD: Wie viele Gäste erwarten Sie?

Schulze: Üblicherweise haben wir 500.000 im Jahr, nun könnten es zwei Millionen werden. Auch da gab es lange Skepsis, nach dem Motto: Sind wir als Gastgeber gut genug? Können wir das schaffen? Ich war in einigen Kulturhauptstädten, habe mir in Bad Ischl auch viele praktische Tipps geholt und sage: Ja, auf jeden Fall. Kultur gibt es nicht nur in Berlin und Hamburg.

In Seiffen im Erzgebirge steht die Skulptur
Auch 38 Gemeinden im Umland von Chemnitz werden eingebunden. Die Skulptur "Twister Again" steht in Seiffen im Erzgebirge.
IMAGO/Harry Härtel

STANDARD: Wie kann es gelingen, nicht nur jene mitzunehmen, die sich ohnehin für Kultur interessieren?

Schulze: Das Angebot ist so groß, dass eigentlich für jeden etwas dabei sein kann. Aber natürlich darf man nicht warten, bis wer an der Tür klingelt und einen einlädt. Man muss schon selbst aktiv werden und eine gewisse Offenheit haben.

STANDARD: Was muss passieren, dass Sie nach dem Ende des Kulturjahres zufrieden sind?

Schulze: In der Außenwirkung: wenn Chemnitz mit mehr Facetten international wahrgenommen wurde als 2018 durch die Rechtsextremisten.

STANDARD: Und nach innen, in der Stadt und der Region selbst?

Schulze: Da antworte ich mit einem halb scherzhaft gemeinten Vergleich: Wenn man in Dresden, Leipzig und Chemnitz fragt, ob das Glas halb voll oder halb leer ist, antworten sie in Dresden und Leipzig: halb voll. In Chemnitz: halb leer. Ich wäre also froh, wenn am Jahresende mehr Chemnitzer sagen: Das Glas ist auch bei uns halb voll. (Birgit Baumann aus Berlin, 18.1.2025)

Sven Schulze (53) ist seit 2020 Oberbürgermeister der Stadt Chemnitz. Der SPD-Politiker war davor Finanz- und Personalbürgermeister, er hat auch in Chemnitz BWL studiert.

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