Aufregerthemen Schliessen

Wahlen in Belarus: 15-mal repressiver als Russland

Wahlen in Belarus 15mal repressiver als Russland
Alexander Lukaschenko will zum siebten Mal Präsidenten von Belarus werden. Offenen Widerstand gibt es kaum. Wo sind die Menschen, die 2020 auf die Straße gingen?

Jede Revolution hat ihre Ikonen. Und wenn es ein Bild gibt, das die ersten Tage der Minsker Proteste geprägt hat, dann war es dieses: Weiß gekleidete Frauen, die sich an den Händen halten, singen – und den Polizisten weiße und rote Blumen an die Schutzschilder steckten. Es war ein Schlüsselmoment der friedlichen Proteste gegen Lukaschenko im Sommer 2020. "Flower Power", titelte der Guardian zu den Proteste der Frauen.

Anastasia Kostjugowa, damals 28 Jahre alt und Projektmanagerin in einem Minsker E-Commerce-Unternehmen, war eine von ihnen. Es war eine Zeit, in der alles möglich schien. Dass die Menschen in Belarus, die zu Hunderttausenden auf die Straßen strömten, den vermeintlich "letzten Diktator Europas" ohne Blutvergießen stürzen könnten. Aber Lukaschenko hielt sich, Repressionen und russische Unterstützung machten es möglich. Nicht Lukaschenko war es, der weichen musste. Sondern Aktivistinnen wie Kostjugowa. Sie floh ins Ausland – zuerst nach Litauen, dann ins polnische Exil. Und wenn sie heute über den Sommer 2020 spricht, dann klingt sie nicht nostalgisch, sondern verbittert. "Wie naiv wir damals doch waren." 

Das sind die Umstände, unter denen sich Lukaschenko am Sonntag zum siebenten Mal wiederwählen lässt. Es sind die ersten Präsidentschaftswahlen seit den großen Massenprotesten 2020, die sich damals an der gefälschten Wiederwahl Lukaschenkos entzündeten. Hunderttausende gingen gegen Lukaschenko auf die Straße, skandierten "Hau ab!" und bejubelten die oppositionelle Gegenkandidatin Swetlana Tichanowskaja als die eigentliche Siegerin.

Im Exil oder in Haft

Aber diesmal wird es keinen offenen Widerstand in Minsk geben. Denn die Protestbewegung von damals ist zerschlagen. Die Demonstranten von einst sind inhaftiert – oder im Exil. Man findet sie heute in Vilnius, Warschau, Berlin, Lissabon oder Washington. Zwischen 200.000 und 500.000 Menschen sollen Belarus seit jenem Sommer 2020 verlassen haben – und das bei einer Einwohnerzahl von neun Millionen. 

© Lea Dohle/​ZEIT ONLINE

Newsletter

Was jetzt, America? – Der US-Überblick

Jeden Freitag bekommen Sie im "Was jetzt, America?"-Newsletter unsere Einordnung zur Lage in den USA.

Mit Ihrer Registrierung nehmen Sie die Datenschutzerklärung zur Kenntnis.

Vielen Dank! Wir haben Ihnen eine E-Mail geschickt.

Prüfen Sie Ihr Postfach und bestätigen Sie das Newsletter-Abonnement.

Es habe sich nicht angefühlt wie der Weg in die Emigration, sagt Kostjugowa über die Tage im Herbst 2020, als sie das Land verließ. Eher wie eine komandirowka, eine kurze Geschäftsreise, von der sie bald wiederkehren würde. Zu sicher war sie sich damals, dass es nur noch eine Frage der Zeit sein werde, bis Lukaschenko falle. Heute, fast fünf Jahre später, sitzt Kostjugowa in Warschau – und sagt: "Wir müssen nun mal anerkennen, dass es derzeit keine Ressourcen für eine Revolution in Belarus gibt." 

Inzwischen hat das Regime jeden Widerstand im Keim erstickt. Kostjugowas Mutter, eine bekannte Politikanalystin, wurde zuletzt zu zehn Jahren Haft verurteilt. Begründung: "Verschwörung zur Machtergreifung." Es sind diese zwei Pole, zwischen denen sich die belarussische Zivilgesellschaft seither bewegt: Exil oder Haft. 

Das gilt auch für die drei Frauen, die die Massenproteste im Sommer 2020 entfachten. Swetlana Tichanowskaja, die Englischlehrerin und Hausfrau, die an der Stelle ihres inhaftierten Mannes bei den Präsidentschaftswahlen antrat und eine Euphorie im Land entfachen konnte? Lebt heute in Vilnius, von wo sie weiter für ein freies und demokratisches Belarus kämpft. Maria Kolesnikowa, die Querflötistin und Kulturmanagerin, die Frau mit dem roten Lippenstift, die als "Mascha" zur Ikone der Proteste wurde und sich weigerte, das Land zu verlassen? Ist in Belarus in Haft. Und Weronika Zepkalo, die dritte Frau im Bunde? Floh ebenso in die EU.

Mehr zum Thema

Präsidentschaftswahl in Belarus: Und am Ende gewinnt Lukaschenko

Nachrichtenpodcast: Lukaschenko lässt sich wieder "wählen"

Belarus: Reporter ohne Grenzen verklagt Belarus vor IStGH

Aber die Rache des Regimes erstreckt sich nicht nur auf die führenden Köpfe der Bewegung. Es sind Repressionen, die selbst für ein Land, das lange vermeintlich als "letzte Diktatur Europas" galt, beispiellos sind. Neben den Hunderttausenden, die Belarus seither verlassen haben, hat es 65.000 Verhaftungen gegeben. Knapp 1.900 Nichtregierungsorganisationen, Parteien und Vereine wurden seit 2020 liquidiert oder haben sich selbst aufgelöst. Die Menschenrechtsorganisation Wiasna zählt aktuell 1.200 politische Gefangene in Belarus, darunter etwa auch ihren Gründer und Friedensnobelpreisträger Ales Beljazki. Zahlenmäßig sind das in etwa so viele politische Gefangene, wie in Russland. Nur: Russland hat mit 140 Millionen Einwohnern eine viel größere Bevölkerung, als das Neun-Millionen-Einwohner-Land Belarus. Rein statistisch ist Belarus somit 15-mal repressiver als Russland.

Von einer "Normalität aus Erschöpfung und Angst" spricht die belarussische Politikanalystin Katsiaryna Shmatsina, die selbst im Exil lebt und in einem Schauprozess in Abwesenheit zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde. Und es ist bezeichnend, dass selbst Swetlana Tichanowskaja davor warnt, heute in Belarus auf die Straße zu gehen: "Ich möchte wirklich nicht, dass die Menschen jetzt umsonst ihre Freiheit opfern", sagte Tichanowskaja zuletzt in einem Interview. Denn die Repressionen sind ungebrochen. Erst Ende Dezember wurden zehn Personen für die Teilnahme an den Protesten verurteilt, viereinhalb Jahre später. Das zeigt, wie stark die Repressionen noch immer sind. Aber auch, wie groß die Protestbewegung eigentlich war.

Viele Fragen quälen die Demonstranten von damals

Mikalaj Martinowitsch ist einer, der 2020 auch auf die Straße ging. Er heißt eigentlich anders, der Name ist der Redaktion bekannt. Er lebt inzwischen in Warschau, aber wie viele andere Exilbelarussen fürchtet er um die Sicherheit seiner Verwandten, die noch im Land sind. Seit dem Sommer 2020 war ZEIT ONLINE regelmäßig mit ihm in Kontakt, er war vom ersten Tag an bei den Protesten dabei. Martinowitsch ist kein bekannter Oppositioneller oder Aktivist, er leitete zum Zeitpunkt der Proteste eine Marketingabteilung in Minsk. Trotzdem klopfte der KGB, der in Belarus noch immer so heißt, irgendwann auch an seine Haustüre – zweimal. Ende 2021 floh er aus dem Land.

Viele Fragen quälen die einstigen Demonstranten bis heute. Was hätten sie anders machen sollen? War die Zeit noch nicht reif für eine Revolution? Hätten sie damals doch energischer gegen die Diktatur vorgehen sollen, vielleicht sogar mit Gewalt? Martinowisch schüttelt den Kopf. "Dann hätte Putin doch sofort Panzer nach Minsk geschickt." Lukaschenko konnte sich nur dank der finanziellen und politischen Schützenhilfe von Wladimir Putin an der Macht halten. Dass sich Lukaschenko, der zuvor immer zwischen der EU und Russland lavierte, sich nun seinem Lieblingsfeind Putin derart ausliefern musste, ebnete wiederum den Boden dafür, dass der russische Präsident Belarus eineinhalb Jahre später als großes Aufmarschgebiet für seinen Überfall auf die Ukraine nutzen konnte. "2020 wussten wir noch nicht, was für ein Spiel gespielt wird", sagt Martinowitsch heute. 

Syrien macht Hoffnung

Es ist verständlich, dass viele Exilbelarussen enttäuscht sind, dass die Revolution gescheitert ist. Und dass es nicht gelungen ist, mehr internationalen Druck auf Lukaschenko auszuüben. Vergessen von der Welt, die im Sommer 2020 noch staunend nach Minsk blickte, auf diese höfliche, bunte und friedliche Revolution. Aber es ist nicht zuletzt der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, der seit 2022 viele Kräfte in der Region und international bindet. Politisch, finanziell und auch medial. Es ist bezeichnend, dass im vergangenen Sommer, als es zu einem großen Gefangenenaustausch zwischen dem Westen und Russland kam, kein einziger Belarusse freigelassen wurde, obwohl Minsk in den Deal eingebunden war. 

Und trotzdem kämpfen die Belarussen weiter. Anastasia Kostjugowa hat eine Organisation gegründet, um zumindest den digitalen Austausch zwischen den Belarussen zu fördern und auf die öffentliche Meinung in Belarus einzuwirken, mit Informationskampagnen, YouTube-Videos und Diskussionsformaten auf TikTok. Denn die "Polarisierung", die Kluft, sagt Kostjugowa, werde immer größer, zwischen den Lebenswelten der Demokratiebewegung, die außer Landes gezwungen wurde, und den Menschen, die in Belarus geblieben sind – und sich mit der Situation in Belarus  arrangieren. Und auch wenn es kaum Zweifel daran gibt, dass sich Lukaschenko bei den Wahlen, die eigentlich keine sind, eine Zustimmung von mindestens 80 Prozent erfälschen werde, sei Lukaschenko so verhasst wie eh und je, glaubt Mikalaj Martinowitsch. Weil: "Wie soll man seinen größten Peiniger auch lieben?"

Die Exilbelarussen eint die Hoffnung, dass es irgendwann doch noch zu einem Wandel kommen werde. Auch, wenn sie dafür möglicherweise einen langen Atem brauchen werden. Lukaschenko ist seit 31 Jahren an der Macht – aber er ist schon 70 Jahre alt. Auch ein Ende des Ukrainekrieges könnte die Karten in der Region neu mischen. Viele Belarussen blickten zuletzt gebannt nach Syrien, wo ein Diktator innerhalb weniger Tage fiel. Und obwohl Tichanowskaja davor warnte, dieser Tage auf die Straße zu gehen, sagte sie auch: "Ich bitte die Menschen, sich für einen wirklich wichtigen Moment aufzusparen." Ein Moment, der kommen werde. "Und dann müssen wir bereit sein."

Ähnliche Shots
  • minsk belarus sport motivation беларусь минск мотивация спорт
  • Ancient Roots the Early History of Belarus history education youtubeshorts facts shorts
  • Belarus Bangladesh and the Colour Revolution Machine
Nachrichtenarchiv
  • Ferrari Purosangue
    Ferrari Purosangue
    Ferrari Purosangue: Vier Türen, zwölf Zylinder, kein SUV
    14 Sep 2022
    2
  • Kirchdorf
    Kirchdorf
    Brauchtumspflege der Bierliga: "Firststehlen" in Kirchdorf am Inn Ried
    17 Jun 2024
    4
  • Radstadt
    Radstadt
    Ausfahrtstests für Radstadt und Bad Hofgastein: Details zu Ausnahmen
    2 Mär 2021
    1
  • Läuse
    Läuse
    Eklig: Läuse-Alarm in Wiener S-Bahn
    25 Mär 2024
    2
  • Hochzillertal
    Hochzillertal
    Hochzillertal Mehrere Gondeln kollidieren in Tiroler Skigebiet Kollision im Skigebiet Hochzillertal
    9 Dez 2018
    1