Der "Volkskanzler" im Schafspelz: Was Kickls Fans und ...
Herbert Kickl sitzt auf einer Kinderwippe, seine Beine fliegen in die Luft. "Hey, das ist aber lustig!", ruft Österreichs erfolgreichster Rechts-außen-Politiker. "Lässig", schiebt er hinterher. Am anderen Ende der Wippe sitzt eine Pensionistin und lacht: "Super is des!" Sie ist Kickl im Naturpark Hohe Wand über den Weg gelaufen und hat ihm vorgeschlagen, kurz rüber auf den Spielplatz zu gehen. Kickl wird ein Video der Wipp-Szene auf Instagram posten. Sie passt perfekt in seine Wahlkampfstrategie, die lautet: harmlos wirken.
"Kann man diesen Mann nicht mögen?", kommentiert ein Fan Kickls unter dem Video. Anders könnte man fragen: Warum mögen so viele Menschen diesen Mann? Kickl ist kein Kumpeltyp wie Heinz-Christian Strache, kein Menschenfänger wie Jörg Haider. In Vertrauens- und Beliebtheitsrankings liegt er regelmäßig auf einem der letzten Plätze. Wie ist es ihm gelungen, sich zum Volkstribun zu stilisieren?
Kickl, 55 Jahre alt, lacht, die Sonne scheint, die Wippe wippt. "Wir passen so auch ganz gut z’sam", sagt der FPÖ-Chef zu der Pensionistin. Er meint offenbar: Sie haben ein ähnliches Gewicht. "So vom ...", spricht er weiter und stockt kurz, "... Ausgleich", sagt er dann. Die Frau überhört die kleine Indiskretion. "Na das hat mich jetzt aber gefreut", flötet sie, bevor Kickl weitermuss.
Der direkte Austausch mit dem Volk gehört nicht zu den großen Stärken des selbsternannten "Volkskanzlers", das sagen selbst viele seiner Parteikollegen. Und doch gilt der Berufspolitiker Kickl unter seinen Anhängern als volksnah, bodenständig, beizeiten derb, aber immerhin direkt. In etwas mehr als einer Woche könnte er mit seiner FPÖ die Nationalratswahl gewinnen. Selbst in seiner eigenen Partei hätte ihm das kaum jemand zugetraut, als er vor drei Jahren die FPÖ übernahm. Doch die Marke Kickl funktioniert besser als gedacht.
Sachter Gegenwind
Tatsächlich schien nichts in diesem Sommer Kickl zu bremsen. Doch zwei Wochen vor der Wahl zog ein Sturm auf. Vier Tage nach dem Spielplatzvideo postet er eine neue Aufnahme. Ernst sitzt er in einem grau-blauen Flanellhemd am Schreibtisch: "Liebe Freunde, unser Land durchlebt in diesen Tagen ganz, ganz schwere Zeiten." Er meint die Unwetterkatastrophe, die über Österreich hereinbrach. Die Kommentare unter dem Beitrag fallen weniger positiv aus als sonst. "Manche hocken gemütlich in ihrem Bunker, andere packen an", schreibt eine Frau. "Immer noch 'Klimahysterie'?", eine andere.
Die Naturkatastrophe könnte der Kanzlerpartei, der ÖVP, zugutekommen, mutmaßen einige politische Beobachter. Würde Kickl noch geschlagen, wäre das aber eine Sensation. Die Umfragen führt seine FPÖ seit bald zwei Jahren an – jede einzelne. Er macht wohl etwas richtig.
Kickl ist für Medien wie den STANDARD schwer greifbar. Er gibt kaum Interviews, selbst im Wahlkampf macht er sich abseits seiner TV-Auftritte rar. Wir haben deshalb nicht mit Kickl gesprochen, sondern mit seiner Anhängerschaft. Mit Fans, die Veranstaltungen besuchen, mit Leuten, die in sozialen Medien seine Beiträge kommentieren, mit Kickls Wegbegleitern und Parteifreunden – um zu verstehen, warum sie ihn wählen.
1. Erfolgskonzept: keine Rücksicht auf Regeln
Herbert! Herbert! Herbert!", brüllen ein paar Männer im Saal. Kickl hat gerade vor rund 3000 Anhängern erklärt, dass alles geht, wenn man nur wolle. Keine Asylanträge annehmen, die "Festung Österreich" errichten – "natürlich geht das", ruft Kickl in die Eventhalle auf dem Grazer Messegelände, in der er seinen Wahlkampfauftakt abhält. "Alle sagten: Das geht nicht. Dann kam einer, der wusste das nicht und hat’s gemacht", zitiert er Einstein. Tatsächlich ist unklar, ob der Physiker den Satz jemals gesagt hat. Es ist aber auch egal: Kickl, der versteht es, sich als Macher zu inszenieren.
Internationale Abkommen? Gesetzliche Hindernisse? Bedenken anderer? Ihm egal. Zumindest sagt Kickl das.
Im Publikum ist Helga, eine 46-jährige Verkäuferin aus Graz. Sie glaubt Kickl jedes Wort: "Er ist jemand, der endlich ausspricht, was viele denken, aber sich nicht trauen zu sagen." An einem anderen Tisch sitzt Manfred. Der Frühpensionist ist aus Kärnten angereist, um Kickl zu sehen. "Er lässt sich nicht von Medien oder den Eliten vorschreiben, was er sagen darf. Er lässt sich auch nicht von der sogenannten politischen Korrektheit einschüchtern."
Gewissermaßen haben die beiden recht. Selbst in der ÖVP findet man Funktionäre, die neiderfüllt auf Kickl blicken, weil der frei von der Leber weg aussprechen könne, was viele Menschen hören wollen. Kickl hat dabei einen entscheidenden Vorteil – gegenüber seinen Mitbewerbern, aber auch gegenüber seinen Vorgängern in der FPÖ: Er legt offenbar wirklich keinen Wert darauf, dem Establishment zu gefallen. Auch seine Vorgänger Heinz-Christian Strache und Jörg Haider hatten sich bewusst in die politische Außenseiterrolle manövriert, jedoch mit einem Unterschied: Sie wollten letztlich doch dazugehören. Kickl möchte außerhalb seiner potenziellen Wählerschaft niemanden überzeugen. "Inzuchtpartie" nannte er die Gesellschaft der Salzburger Festspiele. Es ist ihm egal, wenn ihm solche Sätze dort nie verziehen werden – oder dass zur Festspieleröffnung auch FPÖ-Prominenz kam.
"Haider hatte einen messianischen Anspruch, Strache war der gute Kamerad, Herbert Kickl ist der konsequente Kämpfer gegen das Establishment", sagt Andreas Mölzer, der lange als freiheitlicher Vordenker galt. "Ähnlich wie Haider ist Kickl bereit, Dinge völlig neu zu denken", meint der Welser FPÖ-Bürgermeister Andreas Rabl. "Er verlässt traditionelle Pfade, wenn er meint, dass es besser geht."
Es ist eines von Kickls Erfolgsgeheimnissen: Er sagt und fordert ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Konventionen, Regeln und selbst Gesetze, was er für populär hält. Nicht einmal mit offen angedachten Gesetzesbrüchen und NS-Sprech sorgt er noch für viel Aufsehen. Wie der Volksmund sagt: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert.
2. Erfolgskonzept: die Projektionsfigur
Kurz nach dem Rücktritt von Heinz-Christian Strache im Jahr 2019 soll sich im Büro des blauen Klubs in der Wiener Doblhoffgasse eine Szene abgespielt haben, die einiges über Kickl erzählt. Mehrere führende FPÖ-Politiker, darunter auch Kickl, saßen beisammen. Strache, der vor den Trümmern seiner Karriere stand, bat seine Kollegen um finanzielle Unterstützung. Er habe sich ihnen gegenüber immer korrekt verhalten, habe er argumentiert – und den Satz gesagt: "Wir sind doch Freunde." Kickl soll geantwortet haben: Er habe in der Partei keine Freunde, nur Arbeitskollegen. Das saß. Stimmt aber.
DER STANDARD hat Strache kontaktiert, er möchte zu Kickl heute bloß sagen: "Er ist sicher ein strukturierter Arbeiter, ein Marketingprofi, der das Alleinstellungsmerkmal der FPÖ gezielt herausarbeitet." Nachsatz: "Er ist eher ein Einzelsportler und Einzelkämpfer als ein Teamspieler."
Ein freiheitlicher Landespolitiker, der namentlich nicht genannt werden möchte, erklärt: "Herbert Kickl ist ein sehr zurückgezogener Mensch. Ich kenne eigentlich niemanden, der in einem regelmäßigen Austausch mit ihm steht. Er kommuniziert nur mit ganz wenigen Leuten. Als Strache Parteichef war, fühlte es sich so an, als wären wir in der FPÖ alle eine große Freundesgruppe. Das gibt es unter Kickl nicht mehr, weil er keine Freundschaft nach innen ausstrahlt." Es ist auch kaum etwas über Kickls Privatleben oder seine Familie bekannt. Er ist Triathlet, er klettert gern auf Berge. Viel mehr gibt es nicht.
Das mag vielleicht wenig sympathisch klingen, ist aber vermutlich Teil des Erfolgs: Wer persönlich nicht greifbar ist, ist auch weniger angreifbar. Dazu kommt: Weil Kickl wenig von sich preisgibt, bietet er auch eine große Projektionsfläche.
"Die Tatsache, dass er sich nicht für Homestorys hergibt und keiner sein Wohnzimmer kennt, auch ich nicht, unterstreicht seine Glaubwürdigkeit, dass er kein Schmähführer ist und auch nicht der nette Schwiegersohn. Man nimmt ihm ab, dass er ernst meint, was er sagt", meint Mölzer. Mehrere FPÖ-Spitzenleute bestätigen, dass sich Kickl bloß mit einem kleinen Kreis an Menschen bespreche. Darunter: sein Büroleiter Reinhard Teufel, Vizeklubchefin Dagmar Belakowitsch und Klubdirektor Norbert Nemeth. Sie seien Kickl "bedingungslos ergeben", wie es ein FPÖ-Mann formuliert. Kickl sei auch nicht gerne "draußen bei den Menschen". Das zeigt sich selbst im Wahlkampf: Während andere Spitzenpolitiker im Spätsommer noch möglichst viele Hände in allen Bundesländern schütteln wollten, hatte Kickl lediglich drei "Tourtage" auf seiner Website verzeichnet, an denen er Feste und Veranstaltungen besuchte. Der "Volkskanzler" fremdelt, sobald es menschelt.
Doch hält Kickl eine Rede, werden Ausschnitte davon tausendfach in den sozialen Medien geteilt und verbreitet. "Seine Reden sind brillant. Genau so einen brauchen wir. Einen, der wieder für Recht und Ordnung sorgt", sagt David Lindinger, der in einem oberösterreichischen Zementwerk arbeitet und auf Facebook regelmäßig unter Kickls Postings kommentiert. Er ist Betriebsrat und Gewerkschafter. Kickl steht aus seiner Sicht "für uns Österreicher, und das ist mir wichtig für die eigenen Leute".
Der freiheitliche EU-Spitzenmann Harald Vilimsky – Kickl und er waren unter Strache Generalsekretäre – zollt dem heutigen FPÖ-Chef Respekt: "Nach Veranstaltungen stehen die Menschen stundenlang Schlange, um mit ihm zu reden und Fotos zu machen. Hunderte Menschen, permanent Umarmungen, lauter andere Storys, auf die man reagieren muss. Das kostet viel Kraft." Das mache Kickl gut.
3. Erfolgskonzept: die Fahne im Wind
Vor der malerischen Kulisse des Traunsees bestreitet Herbert Kickl vor einem Monat sein mittlerweile viertes ORF-Sommergespräch. Der FPÖ-Chef gibt sich dort freundlich-angriffig. Wie oft bei Auftritten im öffentlich-rechtlichen TV: Abseits von Sticheleien gegen den Interviewer präsentiert er sich gern zahm. Vor allem jetzt. "Kickl bemüht sich in diesem Wahlkampf, maßvoll und staatstragend aufzutreten, um freiheitliche Wechselwähler zurückzuholen, die Sebastian Kurz für die ÖVP gewonnen hatte", meint Andreas Mölzer.
Von Moderator Martin Thür wird Kickl auf seine 180-Grad-Wende in Sachen Überwachung von Messengerdiensten angesprochen. Als der Innenminister noch Herbert Kickl hieß, wurde ein umfassendes Überwachungstool, der sogenannte "Bundestrojaner", eingeführt und im Anschluss vom Höchstgericht gekippt. Nun spricht sich der FPÖ-Chef strikt gegen die Messenger-Überwachung aus – und hat dafür eine aus blauer Weltsicht schlüssige Erklärung parat: Während der Corona-Pandemie habe die Regierung aus ÖVP und Grünen unbescholtene Menschen "kriminalisiert". Was, wenn die plötzlich überwacht würden?
Der Meinungsschwenk ist argumentiert, aber er bleibt ein Schwenk. Es ist bei weitem nicht sein einziger. Oder, wie es ein Abgeordneter formuliert: Kickl sei "ein sehr konsequenter und geradliniger" Politiker. "Aber mehr in dem, wie er ist, als in dem, was er sagt."
Kickl hat in den vergangenen Jahren mehrfach seinen Kurs angepasst: Lange Zeit war er dafür bekannt, in sozialpolitischen Fragen der SPÖ nahezustehen, eben Politik "für den kleinen Mann" zu forcieren. Auch soll er eine Zusammenarbeit mit der SPÖ gegenüber einer mit der ÖVP präferiert haben. Inzwischen hat Kickl seine Positionierung geändert. "Was auffällt, ist, dass er den Begriff 'Soziale Heimatpartei' völlig vernachlässigt, sozialpolitische Fragen stellt er heute in den Hintergrund", sagt ein langjähriger Weggefährte.
Der Wirtschaftsteil im aktuellen Wahlprogramm der FPÖ deckt sich hingegen in vielen Punkten mit jenem der Volkspartei. "Natürlich ist das auch als taktisches Angebot an die ÖVP zu verstehen", sagt Mölzer. Die FPÖ möchte es der ÖVP – dem einzigen denkbaren Koalitionspartner – möglichst schwermachen, eine Koalition mit den Freiheitlichen abzulehnen. Dabei gilt das schwarze Nein ohnehin nur Kickl, nicht der gesamten FPÖ.
Bei manchen Themen gibt er sich aber auch kompromisslos: Migration, die Pandemie. Beide Themen gelten für die FPÖ als wahlentscheidend – auch 2024.
Etwa für Larissa, eine 29-jährige Unternehmerin im Bereich Fitness und Gesundheit, die ab und zu auf Instagram Kickls Beiträge kommentiert. In der Pandemie habe sie sich als Ungeimpfte wie eine Aussätzige gefühlt. "Und die Situation mit Asylanten ist doch inzwischen so, dass niemand mehr die Augen verschließen kann", meint die junge Frau. Als sie noch in der Stadt gelebt habe, sei sie nicht ohne Pfefferspray aus dem Haus gegangen. Inzwischen wohne sie auf dem Land, wo "die Welt noch in Ordnung" sei. Kickl wird sie trotzdem wählen. "Ich hätte Angst, wenn die FPÖ in den nächsten fünf Jahren wieder nichts zu sagen hat", sagt sie.
Es ist Kickls drittes Erfolgsgeheimnis: Durch sein rhetorisches Talent schafft er es, inhaltliche Kehrtwendungen so zu verkaufen, dass sie ihm selten negativ ausgelegt werden. So bleibt er agil. Gleichzeitig gibt es Themen, in denen er klarer positioniert ist als all seine Konkurrenten. Er ist eine wetterfeste Fahne im Wind.
4. Ausblick: Für Kickl wird jede Stimme zählen
Kommende Woche wird gewählt. Herbert Kickl sagt, als "Volkskanzler" wolle er die "echten Probleme" im Land in Angriff nehmen – ohne "Genderwahnsinn", "Ökokommunismus" und "Klimahysterie", wie er das nennt. Manchmal wird Politik aber von der Realität eingeholt. Oder wie Mölzer sagt: "Jetzt haben die grünen Götter ein Unwetter gesandt." Der Freiheitliche geht nicht davon aus, dass die Hochwasserkatastrophe Kickl viele Stimmen kosten werde. Dennoch sagt er: "Es wird knapp."
Für Kickl geht es um jede Stimme. Sollte er – entgegen allen Umfragen – doch nicht oder nur ganz knapp Erster werden, könnte er auch parteiintern unter Druck geraten. Womöglich würden dann regierungsfreudige Parteikollegen laut, die ihn dazu bewegen wollen, eine Regierungsbeteiligung nicht an seiner Person festzumachen. Auch wenn die FPÖ derzeit felsenfest hinter ihrem Obmann steht.
Herbert Kickl sei "ein sehr verletzlicher Mensch", sagt ein Freiheitlicher, der ihn seit Jahrzehnten kennt. "Wenn auch nur ein paar interne Leute ihn in öffentlich wahrnehmbarer Weise kritisierten, würde ihn das völlig aus dem Konzept bringen", meint er.
Ausgeschlossen ist weder, dass Kickl Österreichs nächster Kanzler wird, noch, dass er in seiner Partei nach der Wahl in Erklärungsnot gerät und an Macht verliert.
Wenn sich in Österreichs Politik eines in den vergangenen Jahren gezeigt hat, dann das: Der Wind kann sich schnell drehen – und damit oft auch die Blickrichtung einer Partei. (Katharina Mittelstaedt, Sandra Schieder, 22.9.2024)