Hunderttausende erhöhen mit 24-Stunden-Protest Druck auf ...
Kundgebungen
Nach dem "Tag des Ungehorsams" in der Vorwoche wächst die Zahl der mit der serbischen Regierung Unzufriedenen. Präsident Vučić "opfert" Premierminister Vučević, der laut Berichten zurücktreten muss
Gianluca Wallisch
aktualisiert am 28. Jänner 2025, 10:54
Serbiens Präsident Aleksandar Vučić spürt weiter den Druck der Straße: Seit vergangenem November kommen in immer kürzeren Abständen zehntausende, mittlerweile oft hunderttausende Menschen in Belgrad und anderen Städten des Landes zusammen, um ihren Unmut über die autoritäre Regierung zum Ausdruck zu bringen. So war es auch – ein weiteres Mal – am Montag: Schon untertags kamen Demonstrierende zusammen, unter ihnen besonders viele Studierende und andere junge Menschen, um den Startschuss zu geben für eine 24-stündige Protestaktion gegen Vučić, die Regierung und die öffentliche Verwaltung. In den Abend- und Nachtstunden wuchs die Zahl massiv an, wie unter anderem Drohnenaufnahmen serbischer und internationaler Medien belegten.
Schon Mitte der der Vorwoche waren zahlreiche Bürgerinnen und Bürger des Landes einem Aufruf zu einem Generalstreik, zu einem "Tag des Ungehorsams", gefolgt. Auch jetzt kam es nicht nur zu Protestkundgebungen, sondern auch zu Arbeitsniederlegungen – laut Medienberichten etwa in Anwaltskanzleien und zahlreichen Kleinbetrieben – sowie zur temporären Schließung des Schulbetriebs, und zwar Berichten zufolge in ganz Serbien.
Wieso diese Proteste?
Seit am 1. November vergangenen Jahres das Dach des Bahnhofs in der 300.000-Einwohner-Stadt Novi Sad (70 Kilometer nordwestlich von Belgrad gelegen) einstürzte und 15 Menschen dabei zu Tode kamen, regt sich in ganz Serbien massiver und vor allem konsequent öffentlich manifestierter Widerstand gegen die autoritär agierende Regierung. Denn der Einsturz des Daches wird mit der Korruption in der regierenden Fortschrittspartei in Zusammenhang gebracht, die – so die Vorwürfe – praktisch alle Institutionen des Staates kontrolliere und die Demokratie unterhöhle.
Das Bahnhofsgebäude war im Rahmen der chinesischen Initiative Neue Seidenstraße "restauriert" worden. Dabei wurden offenbar keinerlei eigentlich vorgeschriebene Mindeststandards eingehalten. Das serbische Regime ist eng mit China verbündet. Nach dem Unglück haben viele Bürgerinnen und Bürger das Vertrauen in ihre Regierung völlig verloren. Sie protestieren aber auch dagegen, dass das Regime versuchte, die Studierenden zu diffamieren, und dass Hooligans – ganz offensichtlich organisiert – geschickt wurden, um die Demonstrierenden zu verprügeln.
In Belgrad, Novi Sad, Kragujevac, aber auch in Novi Pazar folgten Zehntausende dem Aufruf der Studierenden. Viele Menschen kamen trotz winterlicher Wetterverhältnisse mit kleinen Kindern zur Protestaktion. Sogar im Nachbarstaat Kosovo in Nordmitrovica, wo viele Serbinnen und Serben leben, wurde damals eine 15-minütige Protestblockade durchgeführt. Und später sollten noch mehrere Protestaktionen folgen.
Nach zahlreichen Protestmärschen seit dem Unglück, und vor allem nach dem "Tag des Ungehorsams" in der vergangenen Woche, schien Vučić nun am Wochenende endlich einzulenken: Am Samstag forderte er via Instagram seine Regierung auf, die von den Demonstranten verlangte vollständige Dokumentation zu den Renovierungsarbeiten am Bahnhof von Novi Sad doch zu veröffentlichen. Zuvor hatte er sich wochenlang teils unwissend bzw. uninformiert gezeigt.
Vučić aber werde nie einlenken, das ist die feste Meinung vieler Menschen in Serbien, denn er sei sehr um seine Macht besorgt, die er in keiner Weise gefährden wolle. Kritiker mutmaßen, dass der Präsident die Aufmerksamkeit der Bevölkerung von diesen innenpolitischen Problemen ablenken könnte, indem er das Verhältnis zum Kosovo oder zu Bosnien wieder einmal zuspitzen lassen könnte.
Premier als Bauernopfer?
Doch ziemlich überraschend kam Dienstagvormittag die Information über die Nachrichtenagentur Tanjug, dass Ministerpräsident Miloš Vučević noch am Dienstag zurücktreten werde. Vučević ist bei der Serbischen Fortschrittpartei, der auch Präsident Aleksandar Vučić angehört und gilt Analysten zufolge als Bauernopfer, um die Lage zu beruhigen.
Ändern wird sich trotz Kundgebungen und 24-Stunden-Protesten wohl nicht so schnell etwas: Die Opposition wurde jahrelang systematisch zermürbt und klein gehalten, und auch das westliche Ausland – vor allem die Europäische Union und die USA – rückt nicht ab von seiner Pro-Vučić-Haltung. Doch wie man anhand der Medienberichte sehen kann, gibt eine immer größer werdende Zahl an Menschen in Serbien, die ihren Kampf für Demokratie und Transparenz nicht aufgeben. (Gianluca Wallisch, 28.1.2025)