Eine Weihnachtsgeschichte: Warum zwei Berliner DJs mit Obdachlosen Party machen
Eine Brücke am Ostbahnhof, an einem Wochentag vor Weihnachten. Eine Gruppe Obdachlose hat sich hier ihr Quartier gebaut, Matratzen liegen auf dem Boden. Männer und Frauen stehen herum, einige liegen, als plötzlich ein Feuerwehrwagen mit Disco-Licht vorfährt. Zwei Typen mit knallroten Ski-Anzügen, Sonnenbrillen und Bommelmützen steigen aus. Die bärtigen, bauchigen Männer in Rot-Weiß kommen den Wohnungslosen bekannt vor.
„Seid ihr Unioner?“, fragt ein Mann, der wohl lieber an Fußballfans denkt als an Weihnachtsmänner. „Wir sind Knicki und Kröte!“, ruft einer der beiden vergnügt, „wir kennen uns doch vom letzten Jahr!“ Einer erinnert sich offenbar, kommt direkt mit einem Wunsch. „Was braucht ihr, Handschuhe?“, fragt Knicki und notiert. „Erstmal gibt’s Kaffee!“, ruft Kröte. Er bringt frisch gepumpte, dampfende Becher.
„Wir haben Musik dabei“, kündigt Knicki an, während Kröte den Lautsprecher mit Lampen heranrollt. Als er ihn anschaltet, tanzen bunte Lichter auf dem Brückenbeton, unter dem die Obdachlosen leben. „Ich komme mir vor wie Helene Fischer!“, sagt Manu, eine ältere Frau mit Mütze, auf ihrer Matratze. Sie überlegt noch, welches Lied sie sich wünscht, während erste Party-Bässe aus der Box wummern.
René, ein junger Obdachloser, kommt dazu und wippt mit. „Jetzt geht die Party los“, ruft er, „genial!“
Bis zu 10.000 Obdachlose in BerlinParty ist wohl nicht das Wort, das die meisten Menschen mit Obdachlosigkeit im Winter verbinden. Gerade um die Feiertage herum ist das Leben auf der Straße oft kälter, trister und einsamer denn je. Laut Schätzungen gibt es in Berlin bis zu 10.000 obdachlose und bis zu 50.000 wohnungslose Menschen. Über Weihnachten und Silvester bieten acht Einrichtungen Unterkünfte, zwei Suppenküchen Essen an.
Dazu kommen viele private Initiativen, wie das jährliche Weihnachtsessen von Musiker Frank Zander. Aber auf die Idee, mit ihnen Party zu machen, kommen wohl die wenigsten – außer Knicki und Kröte. Obdachlose würden auf der Straße oft beschimpft, bespuckt oder Schlimmeres, findet DJ Kröte. „Doch dann kommen wir zwei Flitzpiepen mit Musik-Box vorbei und fragen, welche Song-Wünsche sie haben.“ Denn wirklich jeder habe einen Wunsch. Über die Musik komme man ins Gespräch, die Obdachlosen öffneten sich.
Keinen Bock auf Privatparty, lieber Musik für ObdachloseSie seien 2018 zum ersten Mal an Silvester losgefahren, „als wir keinen Bock auf Privatparty hatten“, sagt DJ Kröte, der eigentlich Jörg Strombach heißt, im Vorgespräch am Telefon. „Wir wollten positive Energie auf die Straße bringen“, erklärt der 50-Jährige, der als Produzent im Medienbereich arbeitet. Mitstreiter MC Knicki, bürgerlich Jörg Zimmermann, 55 Jahre, war Musiker bei verschiedenen Bands.
Als Hobby verkleiden sie sich gerne als „schlechteste DJs der Welt“, legten in der Toast Hawaii Bar im Prenzlauer Berg auf, vor den Lockdowns, und spielten: „Träshdänce – das Schlimmste der 70er, 80er, 90er und von heute.“ Strombach nennt die Alter Egos „Superheldenkostüme, die wir überstreifen, um Quatsch zu machen – und Gutes tun“. Mittlerweile sammeln sie jeden Winter Spenden, die sie dann verteilen – mit Musik.
Nach Straßenheld Frank Zander kommen Knicki und KröteDafür haben sie einen Feuerwehr-Oldtimer als Partymobil umgebaut – zur „Freuwilligen Feierwehr“. Vor dem bulligroßen Gefährt treffen sie sich am Ostbahnhof bei null Grad, zur ersten Fahrt des Winters. „Wenn unser Straßenheld Frank Zander fertig ist, starten wir und gehen dahin, wo’s wehtut“, sagt DJ Kröte im Ski-Anzug. Er wirkt zugleich übermüdet und überdreht, genau wie MC Knicki neben ihm. Beide reden pausenlos.
Sie haben noch am Wochenende eine Spenden-Party veranstaltet, die ganze Nacht online aufgelegt. 3000 Euro sind dabei zusammengekommen, „aber nur zwei Schlafsäcke, wir brauchen noch mehr“. Wie zur Illustration werfen sich die zwei spontan die Schlafsäcke zu. Ein Kamerateam filmt sie dabei. Sie drehen einen Beitrag für eine Fernsehsendung. Ein wenig Inszenierung gehört bei „Knicki und Kröte“ stets dazu.
„Warm haben wir es hier, es fehlt eher gute Laune“Am Bulli gepinselt steht #KeinSchlafohneSack, das Motto der diesjährigen Spenden-Aktion. Wer will, kann noch bis 31. Dezember Schlafsäcke im Hotel Michelberger in der Warschauer Straße abgeben. „Wir haben die Karuna Sozialgenossenschaft gefragt, was Obdachlose am Dringendsten benötigen“, sagt Strombach. Die Antwort: Schlafsäcke und Lebensmittelgutscheine. Beides verteilten die DJs nun.
Die erste Station ihrer siebenstündigen Tages- und Abendtour ist die Brücke unter den Bahngleisen. Dabei freuen sich die Anwesenden nicht mal am meisten über die beiden Schlafsäcke, die sie kriegen. „Warm haben wir es zum Glück hier“, sagt Manu auf ihrer Matratze, was noch mehr helfe, sei eher „die gute Laune“. Daran mangele es oft. Außer wenn Knicki und Kröte kommen. „Die sind Hammer!“
Dann fällt Manu ein Song zum Wünschen ein: „Auf gute Freunde“ von Böhse Onkelz. Knicki spielt es klaglos vom Handy ab, mit dem er die Box steuert, obwohl die Band ihm Bauchschmerzen bereitet. Die Gruppe hier grölt textsicher mit. „Sowas kommt mal vor, aber wir spielen fast alles“, sagt Knicki. Die Song-Wünsche der Obdachlosen sind durchaus divers: Capital Bra (HipHop), Vanessa Mae (Klassik) und Knorkator (Satire-Rock).
Kröte berichtet, dass junge Obdachlose auch harten Techno wünschten, Sinti und Roma eher Polka. „Da lerne ich musikalisch noch was dazu“, sagt Knicki. Doch egal zu welcher Musik: Beide tanzen mit. Speziell Kröte dreht vor Publikum auf. „Der schlechteste Tänzer der Welt“, sagt Knicki anerkennend. Wie Kinder freuen sich die Umstehenden an seinen goldenen Turnschuhen, deren Sohlen blinken.
„Die Frage ist, ob es denen hilft, wenn man denen Sachen bringt“Knicki und Kröte sind geimpft und getestet, stets nahbar, oft ohne Maske, nehmen Leute in den Arm. Zwei Frauen aus Polen machen ein Foto mit ihnen. Eine bewundert die Schuhe. „Die bestelle ich ihr“, flüstert Kröte zu Knicki. Mittlerweile führen sie eine Wunschliste, kehren oft mit Geschenken zurück. Knicki verteilt derweil großzügig Zigaretten, obwohl er nicht raucht. „Kommt immer gut an“, sagt er.
Nur ein missmutiger Mann mit Kapuze ist nicht überzeugt. Er sei selber kein Wohnungsloser, sagt er, besuche hier nur Freunde. Und sagt dennoch: „Die Frage ist, ob es denen hilft, wenn man denen Sachen bringt.“ Er nickt zu den Matratzen. „Das macht sie nur träge und tranig“, sagt er und nippt an seiner Dose Whiskey-Cola. Viele von ihnen hätten doch schon zwanzig Mal eine Unterkunft gehabt, aber landeten immer wieder hier.
„Ich habe es versaut.“ – „Wir bauen doch alle mal Mist.“Doch die übrigen haben gute Laune. Und Wünsche. Nicht nur musikalischer Art. René, der anfangs gleich „Party, genial!“ gerufen und mitgewippt hatte, stellt sich nun ganz schüchtern neben Kröte. „Ich wüsste, welchen Wunsch ich hätte“, sagt er gedankenverloren, „dass meine Frau wieder lebt.“ Sie sei vor vier Tagen im Krankenhaus gestorben. Wasser in der Lunge. „Jetzt schaut sie von oben zu.“
Eigentlich sei sie nicht seine Frau gewesen, aber sie waren viereinhalb Jahre zusammen, sagt René. „Daran habe ich schon zu knabbern.“ Kröte fragt, ob er vielleicht noch einen anderen Wunsch habe. „Naja, eine Wohnunterkunft wäre schön“, sagt René, er sei dort vor einem halben Jahr rausgeflogen. „Ich habe es versaut“, sagt er und lächelt bitter. „Wir bauen doch alle mal Mist“, baut Kröte ihn auf.
Einen Wunsch weiß René dann noch. Eine mobile Bluetooth-Box hätte er gerne, zum Musikhören. Er mag HipHop, sagt er, war früher mal Breakdancer. „Kannst du doch wieder werden“, sagt Knicki. René schüttelt den Kopf. Das werde nichts mehr, seine Schulter sei gebrochen. Knicki baut ihn auf: „Ich war auch mal zwei Jahre ohne Wohnung und habe im Proberaum gelebt. Ich weiß, wie das ist.“
Am Ende singen alle: „Nur nach Hause geh’n wir nicht!“Auch ein Grund, warum die beiden helfen. „Du kriegst, was du gibst“, sagt Kröte und raucht eine von Knickis Kippen. „Wir geben eine Menge, aber wir kriegen noch mehr zurück.“ Und wenn es nur der Applaus für blinkende Schuhe ist. Dann müssen Knicki und Kröte weiter, zum Alexanderplatz, der nächsten Gruppe Freude bereiten. Karuna hat ihnen eine Karte gezeichnet, die Polizei lässt sie durch.
Silvester kommen sie wieder, versprechen sie. René, der jeden Song mitgerappt hat, freut sich schon. Und wünscht sich ein letztes Lied, diesmal keinen HipHop: Es ist „Nur nach Hause“ von Frank Zander. „Das spielt er immer am Ende seiner Weihnachtsessen“, sagt René. Alle hier kennen den Text. Und so singen sie alle unter ihrer Brücke: „Nur nach Hause, nur nach Hause, nur nach Hause … geh’n wir nicht!“