Anschlag am Wiener Westbahnhof verhindert: 14-Jähriger auf Tiktok ...
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Extremismus
Die Festnahme des mutmaßlichen Jihadisten erfolgte am 10. Februar, wenige Tage vor dem Attentat in Villach. Die Gemeinsamkeit der beiden Fälle: der Konsum radikaler Videos auf Tiktok
Jan Michael Marchart
aktualisiert am 19. Februar 2025, 16:03

Noch nicht einmal eine Woche ist vergangen, seit der Syrer Ahmad G. in Villach mutmaßlich zum Terroristen im Namen des "Islamischen Staates" (IS) wurde. Bei dem Messerattentat starb am vergangenen Samstagnachmittag ein erst 14-jähriger Bursche, mehrere Personen wurden verletzt. Am Mittwoch wurde über den Verdächtigen die U-Haft verhängt.
Kurz darauf folgte schon der nächste Terroralarm. Um 13.43 Uhr titelte die Austria Presse Agentur: "Anschlag am Wiener Westbahnhof verhindert – 14-Jähriger festgenommen". Der Zugriff der Polizei erfolgte zwar schon am 10. Februar, allerdings haben die beiden Geschichten eines gemeinsam: Tiktok.
Es wurde immer radikaler
Ahmad G. soll sich unter anderem über diverse Prediger auf Tiktok radikalisiert haben. Und zwar innerhalb kürzester Zeit, wie es hieß. Wie DER STANDARD vonseiten der Sicherheitsbehörden erfuhr, konsumierte G. aber auch reichlich Propaganda via Telegram und einer einschlägigen Webseite. Speziell in den Tagen vor dem Anschlag soll der 23-jährige Syrer massiv viele Videos online gestreamt haben. Die sollen ihn letztlich zur Tat ermutigt haben.
In dem nun bekanntgewordenen Fall um mutmaßliche Planung eines Anschlags auf den Westbahnhof dürfte Tiktok hingegen eine noch bedeutendere Rolle gespielt haben. Der erst 14-Jährige soll sich nach STANDARD-Informationen auf der Plattform zunächst generell mit islamischen Inhalten beschäftigt haben. Mit der Zeit seien dem österreichischen Staatsbürger mit türkischen Wurzeln immer radikalere Videos angezeigt worden – bis in ihm das Gefühl gereift sei, dass ihn ein möglicher Terroranschlag ins Paradies bringen könne.
IS-Führer, Al-Kaida, "Charlie Hebdo"
Der Jugendliche dürfte auch selbst höchst einschlägiges Material auf Tiktok geteilt haben, um seine Followerinnen und Fans zu beeindrucken. Etwa Videos eines ehemaligen IS-Führers, eines Predigers, der einst Al-Kaida unterstützt hatte. Oder einen Ausschnitt des islamistischen Terroranschlags auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo vom 7. Jänner 2015.
Dadurch kamen die Ermittler dem Jugendlichen im Zuge eines Internetmonitorings auf die Schliche. Den Tiktok-Postings folgte letztlich am 10. Februar eine Hausdurchsuchung. Zu ihrer Überraschung fanden die Exekutivbeamten dabei weit mehr als zunächst angenommen.
Exakte Anschlagsskizze
Der erst 14-Jährige, der sich in U-Haft befindet, soll einen aus Sicht der Ermittler recht exakten Anschlagsplan aufgezeichnet haben. Auf der Skizze zu sehen sei der Westbahnhof. Konkreter eingezeichnet seien die Bahnsteige, die U6, ein Messer, eine Machete, das Wort "Kuffar" (Ungläubige, Anm.) samt Fluchtweg.
Die Ermittler stießen bei der Razzia aber neben islamistischen Büchern offenbar auch auf eine Liste mit Aufzeichnungen von Bestandteilen, die man zum Bau einer Bombe brauchen könnte. Angeblich aber ohne konkrete Mengenangaben und Mischverhältnisse. Im Besitz von Säuren oder Zündern soll der Verdächtige nicht gewesen sein.
Eines machte die Beamten aber stutzig: Bei der Hausdurchsuchung fanden sie allem Anschein nach auch drei lose Tischbeine. Die, so nehmen die Sicherheitsbehörden derzeit an, könnte sich der mutmaßliche Jihadist möglicherweise dafür besorgt haben, um eine Art Rohrbombe herzustellen.
"Fantasien, die er nicht umgesetzt hat"
Für die Anwältin des 14-Jährigen, Anna Mair von von der Wiener Kanzlei Ofner Mair, spricht alles dafür, dass sich der Bursche über Tiktok radikalisiert hat – wie es laut Terrorforschern dieser Tage immer öfter vorkommt. "Weil keine Vorkehrungen getroffen werden, die radikalen Inhalte von dort zu entfernen", moniert die Verteidigerin im Gespräch mit dem STANDARD. Ihr Mandant habe – vermutlich mindestens seit August 2024 – nach und nach "Fantasien entwickelt, die er letztlich aber nicht in die Tat umgesetzt hat". Aktuell versucht Mair, den Jugendlichen an eine Deradikalisierungsstelle zu vermitteln. Das "Go" der Staatsanwaltschaft dafür stehe noch aus.
In diese Richtung geht auch eine Forderung von Judith Pühringer, grüne Spitzenkandidatin für die Wien-Wahl: "Wie viele weitere Beispiele, in denen sich junge Burschen online radikalisieren, brauchen wir noch, bis endlich mit voller Härte gegen Tiktok vorgegangen wird?"
"Dass 14-Jährige zu potenziellen Tätern werden, ist ein Alarmsignal", betonte der Chef der Wiener ÖVP, Karl Mahrer. Mahrer forderte einmal mehr eine erweiterte Chatüberwachung gegen potenzielle Terroristen.
Der Wiener FPÖ-Chef Dominik Nepp nannte den vereitelten Anschlag "das direkte Ergebnis der gescheiterten Integrationspolitik und der offenen Grenzen, die radikalen Islamisten Tür und Tor öffnen". Er verlangte die umgehende Schließung von "radikalislamistischen Moscheen und Vereinen" und die sofortige Abschiebung von Gefährdern. (Jan Michael Marchart, 19.2.2025)
Hinweis: Der Artikel wurde um 15.57 Uhr umfassend aktualisiert.
Zum Weiterlesen:
Die Gefahr der islamistischen Tiktok-Prediger für die Jugend
Tiktok und Telegram: Zwischen Verbotsideen und Überwachungsfantasien
Wie die Radikalisierung zum Islamisten auf Tiktok funktioniert
Chronologie: Durchgeführte und vereitelte islamistische Anschläge in Österreich
2020, Wiener Innenstadt: Im an den Schwedenplatz angrenzenden Ausgehviertel tötete ein IS-Anhänger am 2. November 2020 vier Menschen und verletzte 23 weitere teils schwer. Neun Minuten lang schoss der islamistische Attentäter um sich, ehe er von der Polizei getötet wurde. Der 20-jährige K. F., er hatte sowohl die österreichische als auch die nordmazedonische Staatsbürgerschaft, war den Behörden bekannt. Im April 2019 wurde er zu 22 Monaten Haft verurteilt, weil er versucht hatte, nach Syrien auszureisen, um sich dort dem IS anzuschließen. Der slowakische Geheimdienst hatte das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) darüber informiert, dass der Attentäter im Juli 2020 in der Slowakei Munition kaufen wollte. Vorwürfe wurden laut, ob der Anschlag hätte verhindert werden können.
2023, Regenbogenparade in Wien: Kurz vor Beginn der Regenbogenparade in Wien im Juni 2023 nahm die Polizei drei österreichische Staatsbürger fest. Sie wollten einen islamistischen Terroranschlag auf die Parade verüben. Bei einer Hausdurchsuchung wurden Luft- und Schreckschussgewehre sowie Stichwaffen entdeckt. Der Staatsschutz hatte im Vorfeld Hinweise eines ausländischen Partnerdienstes erhalten. Während der Regenbogenparade bestand laut dem obersten Staatsschützer Omar Haijawi-Pirchner zu keiner Zeit Gefahr für die Teilnehmenden.
2023, Wiener Hauptbahnhof: Am 11. September 2023 wollte ein 16-Jähriger mit einem Kampfmesser am Wiener Hauptbahnhof einen Terroranschlag im Namen des IS verüben. Der Österreicher mit türkischen Wurzeln hatte vor, mit Feuerwerkskörpern für Verwirrung zu sorgen und anschließend mit dem Messer auf Passantinnen und Passanten zuzustechen. In letzter Sekunde brach der Jugendliche aber sein Vorhaben ab. Die Behörden wurden auf den jungen Mann wegen einer Chatgruppe aufmerksam, der Jugendlichen wurde auf offener Straße festgenommen. Er soll sich über das Internet radikalisiert haben.
2023, Wiener Stephansdom: Im Dezember 2023 wurden drei mutmaßliche Terroristen aus Tadschikistan, der Türkei und Tschetschenien festgenommen, die einen Anschlag auf den Wiener Stephansdom geplant haben sollen. Laut Staatsschutz gehörten die Personen einem länderübergreifenden radikalislamischen Terrornetzwerk an, das Anschläge auf den Kölner Dom und den Stephansdom in Erwägung zog. Im Mai 2024 werden sie mangels dringenden Tatverdachts aus der U-Haft entlassen und sollen abgeschoben werden. Einer der Verdächtigen wurde im Juli vor seiner geplanten Abschiebung nach Dagestan tot in seiner Zelle in einem Polizeianhaltezentrum (PAZ) aufgefunden.
2024, Taylor-Swift-Konzert in Wien: Im Zusammenhang mit Anschlagsplänen für Veranstaltungen im Großraum Wien – genannt wurden von der Polizei konkret drei Taylor-Swift-Konzerte im Ernst-Happel-Stadion – wurden ein 19-jähriger Österreicher mit nordmazedonischen Wurzeln in Ternitz (Bezirk Neunkirchen) und später ein 17-jähriger Österreicher mit türkisch-kroatischen Wurzeln in Wien festgenommen. Sie sollen "den Treueschwur auf den IS" abgelegt haben, laut Polizei wurden auch chemische Substanzen sichergestellt. Die Konzerte wurden abgesagt. Die entscheidenden Hinweise sollen laut New York Times von der CIA gekommen sein.
2025, Villach: Ein 23-jähriger Mann stach am 15. Februar in der Villacher Innenstadt, in der Nähe des Hauptplatzes, auf mehrere Passanten ein. Ein 14-jähriger Jugendlicher erlitt tödliche Verletzungen, fünf weitere Personen wurden zum Teil schwer verletzt. Beim mutmaßlichen Täter handelt es sich um einen aufenthaltsberechtigten syrischen Staatsbürger. Er wird unmittelbar nach der Tat festgenommen. Die Ermittler gehen von einem islamistischen Motiv aus. (ste)