Fünf Briefe: Tiroler "Jahrhundertfund" versetzt Kleist-Welt in Aufregung
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Literarische Sensation
Handschriften des Autors Heinrich von Kleist sind selten. Die am Donnerstag präsentierten Blätter zeigen, wie er den Krieg Österreichs gegen Napoleon sah
Michael Wurmitzer
19. September 2024, 17:21
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"Man hat jetzt die fr. Armee auf dem Punct, um Rache an ihr zu nehmen", war Heinrich von Kleist am 23. Mai 1809 siegessicher. Es tobte der Fünfte Koalitionskrieg zwischen Österreich und Frankreich, und Kleist hatte die Schlacht bei Aspern, aus der man gegen Napoleon siegreich hervorgegangen war, hautnah miterlebt. Zwei Monate später die Ernüchterung. Bei Wagram hatten die österreichischen Truppen nun verloren, und selbst wenn es nicht so gewesen wäre – "in den Brüsten der Deutschen liegt ihr Feind" und so würde selbst im Siegesfall "das Vaterland, falls man diesen Feind nicht zu bekämpfen gewußt hätte, nichts desto weniger untergegangen sein".
Wie sehr die politische Situation seiner Zeit den Autor (1777–1811) beschäftigte, ist bekannt. Er bewegte sich in Militär- und Diplomatenkreisen, es lässt sich auch an seinen politischen Liedern oder dem Stück Hermannsschlacht ablesen: Nach der Niederlage Preußens gegen Napoleon 1806 sollte das Drama die Deutschen zum Volksaufstand aufpeitschen. Kampf bis zum Letzten. Heute gilt einiges als problematisch.
Als alltägliche Zeugnisse eines politischen Furors erblicken die eingangs zitierten Zeilen nun aber 215 Jahre nach ihrer Niederschrift erstmals das Licht der Öffentlichkeit. Am Donnerstag wurden sie von der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft in Berlin präsentiert. Sie stammen aus fünf handschriftlichen Briefen Kleists, die voriges Jahr entdeckt wurden – im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum. Der größte Fund an Kleist-Autografen seit mehr als 100 Jahren, der erste seit 1988, ein "Jahrhundertfund".
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"Notrettung"
Roland Sila leitet die Bibliothek des Ferdinandeums. Wo kommen diese Briefe her? Aus dem Nachlass des österreichischen Diplomaten Joseph von Buol-Berenberg (1776–1812). Der hatte Kleist einst als Teil der österreichischen Gesandtschaft in Dresden kennengelernt. Die beiden freundeten sich an, Buol wurde ein Förderer. Denn so kanonisiert heute Stücke wie Der zerbrochne Krug über den schuldigen Dorfrichter Adam, Amphitryon über den liebestollen Jupiter oder Erzählungen wie die vom Rosshändler Michael Kohlhaas sind, zu seiner Zeit war Kleist wenig erfolgreich. Nach Napoleons Sieg in Jena und Auerstedt hatten Kleist und Buol Sachsen verlassen, Buol zog nach Wien, Kleist blieb unstet. Der Briefkontakt blieb aufrecht, nach Buols Tod gelangte die Korrespondenz wohl 1817 in den Besitz des Tiroler Sammlers Andreas Alois Di Pauli (1761–1839). Das Archiv der Familie erhielt das Landesmuseum 2006 als Schenkung. Immerhin war Di Pauli einer der Mitbegründer.
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Damals wusste man noch nichts von der Sensation. Sila erinnert sich an eine "Notrettung": Zum Teil in Obstkisten, verstaubt, aber immerhin trocken lagerten die tausenden Zettel in einem Kellergewölbe. Dass sie nun in die Literaturgeschichte eingehen, dafür sorgte eine Anfrage des heute 87-jährigen US-Germanisten Hermann F. Weiss. Der hatte schon in den 70ern und 80ern Kleist-Funde gemacht, 2022 stieß er auf Hinweise, dass sich im Buol-Archiv ein Briefwechsel befinden könnte. Über 300 Nachlässe betreut man im Ferdinandeum derzeit, jedes Jahr kommen rund fünf hinzu, manche umfassen zwei, manche 500 Kisten. Kaum lässt sich diese Menge gleich bei Übernahme und Umlagerung im Detail sichten, es braucht dazu Anfragen wie jene von Weiss.
Zeitaufwendig
Zwei bis drei Stunden die Woche verwandte infolgedessen ein Mitarbeiter des Ferdinandeums ein Jahr lang darauf, die 290 Boxen durchzusehen. "Wir sichern Materialien für die Zukunft", sagt Sila und klagt, dass immer mehr Mittel in Digitalisierungen fließen statt in solche Erschließungen. Die Folge ist ein Rückstau. Einige Briefkonvolute waren mit Schnüren zusammengeheftet, das half beim Erstellen eines Grobverzeichnisses. Auch das ist Di Pauli zu verdanken, der hier Schreiben verschiedener Absender verbunden und mit dem Titelblatt "Briefe von" versehen hatte. Unter den aufgelisteten Namen auch jener Kleists. Ein Glück, denn der Autor signierte wie üblich mit einer Abkürzung aus "H" und "v" – und "man muss schon genau hinschauen, um das 'Kleist' lesen zu können", sagt Sila.
Schriftproben, Papier und Überlieferungsgeschichte sprachen für die Authentizität der Briefe. Scans wurden Weiss in die USA übermittelt. Ein weiteres Glück: Die Briefe sind "hervorragend" erhalten. Nur dass die Blätter meist beidseitig beschrieben sind, führt bei zwei Briefen, die auf sehr dünnem Papier verfasst wurden, dazu, dass durchscheinende Tinte die Lesbarkeit erschwert.
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Nichtsdestoweniger halten sie viel bereit. In Stockerau hört Kleist es "kanonieren", und mit dem Fernrohr auf dem Bisamberg stehend beobachtet er die Kämpfe, um sie Buol möglichst lebendig und tagesaktuell zu schildern: Straßen sind mit "Blessirten" bedeckt, mit Steinen beladene Flöße brechen französische Schwimmbrücken, der Gegner wird "immer enger zusammengepreßt". Nach der Niederlage im Juli dann hält er schließlich nichts von einem Waffenstillstand: "es ist mehr Rettung im Untergang".
Privates und ein "Don Quixote"
Auch privatere Einblicke lassen sich gewinnen. Sehr wenige Zeugnisse von Kleists Leben sind überliefert, bisher kannte man nur 173 Originalbriefe. Im fünften der nun entdeckten Briefe berichtet er, "krank" geworden, aus Gotha von einer Rückreise aus Frankfurt am Main, zu der er sich "nothgedrungen habe entschließen müssen". Warum? Das bleibt unklar. Doch "will ich mich auch nicht weiter grämen, sondern wie der Bastard im Shakespear sein, und es den Sternen in die Schuhe schieben".
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Ist es möglich, dass weitere Kleist-Briefe im Nachlass auftauchen? Oder der "Don Quixote", von dem Kleist erwähnt, dass er ihn aus Prag "überschicke", und den die Forschung nicht kennt? Das nimmt Sila aufgrund von Di Paulis Sortierung nicht an, kann es aber nicht ausschließen. Was passiert jetzt mit den Briefen? Spezialbehandlung erfahren sie keine, sie werden weiter in klassischen Archivkartons verwahrt. "Für uns ist das Tagebuch einer Innsbruckerin museal und dokumentarisch gleich viel wert wie ein Kleist-Autograf." Möglicherweise könnte nach dem gerade stattfindenden Umbau des Tiroler Landesmuseums aber stärker auf besondere Autografen im Bestand hingewiesen werden. Immerhin hat man auch solche von Goethe, Schiller, Schiele und Erwin Schrödinger.
Jedenfalls könnte die Suchaktion den Weg für weitere Entdeckungen geebnet haben. Schlagworte aus der Sichtung der 290 Kartons werden in den nächsten Wochen ins Onlineverzeichnis eingepflegt, sodass die Briefe nun in Suchergebnissen aufscheinen. (Michael Wurmitzer, 20.9.2024)